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Der Rückzug vom offenen Peering – Wie das Internet seine Neutralität verliert
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Der Rückzug vom offenen Peering – Wie das Internet seine Neutralität verliert

Deutsche Telekom und Vodafone verlassen öffentliche Internetknoten. Was als Effizienzgewinn verkauft wird, verändert die Grundstruktur des Internets – mit unabsehbaren Folgen.

Das Internet galt lange als dezentrales, offenes Netzwerk, in dem alle Teilnehmer gleichberechtigt Daten austauschen können. Doch diese Grundidee erodiert. Nach jahrelangen restriktiven Peering-Praktiken der Deutschen Telekom zieht nun auch Vodafone bis Ende 2025 vollständig aus dem öffentlichen Peering zurück. Was als technische Optimierung verkauft wird, ist faktisch ein Paradigmenwechsel: Vom offenen, dezentralen Internet hin zu einem kommerziell kontrollierten Modell mit neuen Kostenbarrieren und Gatekeepern.


Das Ende des offenen Austauschs

Jahrzehntelang funktionierte das Internet nach einem einfachen Prinzip: Netzbetreiber und Content-Anbieter tauschen Daten an neutralen, öffentlichen Internetknoten wie dem DE-CIX in Frankfurt aus. Das Modell war dezentral, offen und kostengünstig – kleine Provider und Content-Netzwerke zahlten nur eine feste Portgebühr, unabhängig vom Datenvolumen.

Dieses Modell hat das Internet groß gemacht. Es sorgte für:

  • Dezentralität: Viele gleichberechtigte Knotenpunkte statt zentraler Flaschenhälse
  • Offenheit: Jeder konnte mit jedem Daten austauschen
  • Redundanz: Mehrere Wege erhöhten Ausfallsicherheit
  • Kostengerechtigkeit: Fixe Portgebühren statt volumenabhängiger Abrechnung

Doch dieses Modell bröckelt.


Die Deutsche Telekom als Vorreiter der Privatisierung

Die Deutsche Telekom hat schon vor Jahren begonnen, öffentliches Peering einzuschränken. Statt über offene Internetknoten setzt sie auf direktes, privates Peering – mit strikten Bedingungen und Gebühren, die laut Kritikern weit über Marktpreisen liegen.

Die Vorwürfe im Detail

Im April 2025 haben die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Epicenter.works, der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und Stanford-Professorin Barbara van Schewick bei der Bundesnetzagentur Beschwerde gegen die Deutsche Telekom eingereicht. Die Vorwürfe wiegen schwer:

Künstliche Engpässe
Die Telekom schaffe gezielt Bottlenecks an den Zugangspunkten zu ihrem Netz, um Online-Dienste zu zwingen, für ungehinderten Zugang zu bezahlen.

Überhöhte Preise
Thomas Lohninger von Epicenter.works erklärt: “Die Telekom ist der einzige Internetprovider in Deutschland, der künstlich die Verbindung seines Netzes mit dem Rest des Internets reduziert und verteuert, um Gewinne zu maximieren.” Die Preise lägen “um ein Vielfaches über dem Marktpreis”, während der Standard eigentlich kostenloses Peering sei.

Diskriminierung kleinerer Anbieter
Kleinere Provider und Startups, die nicht zahlen können oder wollen, werden ausgebremst – ihre Dienste laden langsam oder gar nicht. Besonders zu Stoßzeiten kommt es zu Datenstau.

Das Meta-Beispiel
Meta hat im September 2024 seine direkte Peering-Partnerschaft mit der Deutschen Telekom beendet und erklärt, die Telekom gefährde das offene Internet und untergrabe Netzneutralitätsprinzipien, indem sie ihre Marktmacht nutze, um eine Art Paywall in Deutschland aufzubauen. Im März 2024 hatte das Landgericht Köln entschieden, dass Meta 20 Millionen Euro für die Nutzung der Infrastruktur zahlen müsse – das Berufungsverfahren läuft.

Die Position der Telekom

Die Telekom weist alle Vorwürfe zurück. Ein Sprecher bezeichnete die Anschuldigungen als “falsch und zeugten von rechtlichem und technischem Unverständnis”. Man verletze das Gebot der Netzneutralität nicht und sehe einer Überprüfung gelassen entgegen.

Was macht die Bundesnetzagentur?

Die Bundesnetzagentur untersucht die Beschwerde seit April 2025. Auf der re im Mai 2025 bestand Einigkeit, dass die Behörde sich den Bereich gründlich ansehen muss. Ein abschließendes Ergebnis liegt bisher nicht vor.

Das ist das Problem: Die Bundesnetzagentur prüft – aber handelt nicht. Während die Beschwerden laufen, etablieren sich die neuen Strukturen. Je länger die Behörde wartet, desto schwieriger wird eine Rückkehr zum offenen Modell.


Vodafone folgt dem Telekom-Modell

Ende 2025 zieht Vodafone vollständig nach. Das Unternehmen setzt auf “FlexPeer” – ein System, das Datenströme dynamisch über die private Infrastruktur von Inter.link verteilt, statt über öffentliche Internetknoten.

Die Veränderungen im Detail:

  • Volumenabhängige Abrechnung: Statt Pauschalen wird nach Datenmenge abgerechnet
  • Zentralisierung: Austausch nicht mehr an vielen neutralen Knoten, sondern über einen privaten Vermittler
  • Geschlossenes System: Vodafone entscheidet selbst, welche Routen bevorzugt werden
  • Kostenbarrieren: Kleinere Anbieter müssen zahlen oder auf ineffizientere Wege ausweichen
  • Ungleichbehandlung: Große Plattformen wie Google oder Amazon erhalten vermutlich Sonderkonditionen

Vodafone argumentiert mit Effizienzgewinnen, Kostenersparnissen und geringerem Energieverbrauch. Kritiker bezweifeln diese Vorteile: Weniger Knotenpunkte bedeuten längere Datenwege, weniger Redundanz und neue Abhängigkeiten.


Konkrete Auswirkungen auf kleine Provider

Die Veränderung trifft besonders kleine Internet Service Provider und Content-Anbieter:

Kostenexplosion durch volumenbasierte Abrechnung

Bisher zahlten kleine Provider eine kalkulierbare Portgebühr – egal wie viel Traffic floss. Jetzt kommt eine volumenabhängige Abrechnung hinzu. Bei steigendem Datenverkehr (Videostreaming, Cloud-Dienste, Software-Updates) wird das Kostenrisiko unkalkulierbar.

Die genauen Kosten sind schwer zu beziffern, da die Preise von Inter.link und die konkreten Peering-Konditionen nicht öffentlich sind. Fest steht aber: Der Wechsel von fixen Portgebühren zu volumenabhängiger Abrechnung verschiebt das Kostenrisiko von den großen Providern zu den kleinen Anbietern.

Wettbewerbsverzerrung

Während große Plattformen wie Netflix, YouTube oder Amazon individuelle Peering-Vereinbarungen aushandeln können (oft zu Vorzugskonditionen), haben kleine Anbieter keine Verhandlungsmacht. Sie müssen die Konditionen akzeptieren – oder ausweichen.

Technische Alternativen – alle mit Nachteilen

IP Transit als teure Notlösung
Kleine Provider können auf klassisches IP Transit ausweichen – also den Datenverkehr über andere, größere Netzbetreiber routen. Das ist jedoch deutlich teurer als direktes Peering und führt zu längeren Latenzzeiten.

Andere Internet Exchange Points
Theoretisch könnten Anbieter auf kleinere IXPs wie BCIX Berlin ausweichen. Praktisch funktioniert das nur, wenn Telekom und Vodafone dort präsent sind – was zunehmend nicht mehr der Fall ist.

Private Network Interconnects (PNI)
Eine direkte, private Verbindung wäre technisch optimal, aber für kleine Anbieter finanziell und administrativ kaum zu stemmen. PNIs rechnen sich erst ab sehr großen Datenmengen.

Weitergabe an Endkunden

Wenn die Kosten für kleine ISPs steigen, haben sie drei Optionen:

  • Preiserhöhungen für Endkunden
  • Qualitätseinbußen durch günstigere, aber langsamere Transitwege
  • Margenverlust durch Absorption der Mehrkosten

Besonders in ländlichen Regionen, wo oft nur kleinere, regionale Provider aktiv sind, kann das zu spürbaren Verschlechterungen führen.


Die Zukunft des offenen Internets steht auf dem Spiel

Der Rückzug großer Provider vom öffentlichen Peering ist mehr als eine Geschäftsentscheidung – er verändert die Architektur des Internets fundamental.

Vom dezentralen zum zentralisierten Internet

Das ursprüngliche Internet-Modell basierte auf vielen gleichberechtigten Knotenpunkten. Wenn große Provider wie Telekom und Vodafone auf private Peering-Plattformen wechseln, entstehen zentrale Flaschenhälse. Der Datenaustausch läuft nicht mehr über viele verteilte Knoten, sondern über wenige kommerzielle Vermittler.

Was passiert, wenn diese Vermittler ausfallen? Preise erhöhen? Von größeren Konzernen übernommen werden?

Das Ende der Netzneutralität

Wenn große Content-Anbieter bevorzugte Peering-Konditionen erhalten, während kleinere zahlen müssen, entsteht eine Zwei-Klassen-Internet-Infrastruktur. Das verstößt gegen das Prinzip der Netzneutralität, wonach alle Daten gleichberechtigt behandelt werden sollten.

Die EU-Verordnung zur Netzneutralität hat diesen Bereich bewusst ausgeklammert. Interconnection und Peering bleiben weitgehend intransparent und unreguliert. Doch genau hier findet der Umbau statt.

Neue Gatekeeper mit Monopolmacht

Mit Unternehmen wie Inter.link entstehen neue Gatekeeper, die kontrollieren, wie Daten zwischen Netzen fließen. Anders als bei öffentlichen, community-getragenen IXPs liegt die Kontrolle über kritische Infrastruktur nun bei privaten Unternehmen mit klaren Gewinninteressen.


Was passiert, wenn die Bundesnetzagentur nicht handelt?

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Bundesnetzagentur zögerlich agiert. Die Beschwerden gegen die Telekom laufen seit Monaten – ohne Ergebnis. Vodafone zieht ungebremst nach.

Szenario 1: Status quo bleibt

Wenn die Bundesnetzagentur keine Verstöße feststellt oder nicht eingreift, wird sich das neue Modell etablieren:

  • Weitere Provider werden folgen: Warum sollte o2/Telefónica nicht auch auf privates Peering setzen?
  • Kosten steigen: Kleine Provider geben die Mehrkosten an Kunden weiter
  • Wettbewerb schwindet: Kleine ISPs können nicht mehr konkurrieren
  • Innovation leidet: Startups und neue Dienste haben es schwerer
  • Netzneutralität erodiert: De facto entstehen bevorzugte Datenwege

Szenario 2: Regulierung greift zu spät

Selbst wenn die Bundesnetzagentur in einem Jahr Verstöße feststellt – was dann? Die Infrastruktur ist umgebaut. Verträge sind geschlossen. Provider haben sich an das neue Modell angepasst.

Eine Rückkehr zum offenen Peering wäre technisch und rechtlich extrem aufwendig. Wahrscheinlicher ist eine halbherzige Lösung: Regulierung der Preise, aber keine Rückkehr zur Offenheit.

Szenario 3: Das Internet fragmentiert

Im schlimmsten Fall fragmentiert das Internet: Große, kommerzielle Netze auf der einen Seite – mit schnellen Verbindungen zu zahlenden Content-Anbietern. Kleinere, offene Netze auf der anderen Seite – mit schlechteren Verbindungen und höheren Kosten.

Das wäre das Ende des Internets, wie wir es kennen.


Internationale Dimension: Folgen für Europa und darüber hinaus

Deutschland ist nicht isoliert. Was hier passiert, hat Auswirkungen auf ganz Europa:

  • Nachahmungseffekt: Andere europäische Provider könnten dem Telekom/Vodafone-Modell folgen
  • Fragmentierung des EU-Binnenmarkts: Unterschiedliche Peering-Modelle in verschiedenen Ländern
  • Schwächung europäischer Wettbewerbsfähigkeit: Höhere Kosten für europäische Startups und kleine Anbieter im Vergleich zu USA oder Asien
  • Abhängigkeit von privaten Gatekeepern: Kritische Infrastruktur in der Hand weniger Unternehmen

Die EU hat mit der DSGVO, dem Digital Services Act und anderen Regulierungen versucht, digitale Souveränität zu stärken. Doch ausgerechnet bei der kritischsten Infrastruktur – dem Internet selbst – greift die Regulierung nicht.


Was jetzt passieren muss

Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Es braucht Handeln auf mehreren Ebenen:

1. Bundesnetzagentur muss entscheiden

Die Beschwerden gegen die Telekom müssen zügig bearbeitet werden. Eine klare Position ist nötig: Verstößt das Geschäftsmodell gegen Netzneutralität oder nicht?

2. Regulierung von Interconnection

Die EU-Netzneutralitätsverordnung muss erweitert werden. Peering und Interconnection dürfen nicht länger unreguliert bleiben. Es braucht:

  • Transparenzpflichten für Peering-Konditionen
  • Verbot diskriminierender Praktiken
  • Preisobergrenzen oder Marktpreisbindung
  • Schutz kleinerer Anbieter

3. Förderung offener Internetknoten

Öffentliche Internetknoten wie DE-CIX sind kritische Infrastruktur. Sie sollten politisch und wirtschaftlich gefördert werden – als Gegengewicht zu privaten Peering-Plattformen.

4. Transparenz schaffen

Provider müssen ihre Peering-Praktiken offenlegen. Nur so können Regulierungsbehörden, Wettbewerbshüter und die Öffentlichkeit beurteilen, ob Netzneutralität gewahrt bleibt.

5. Europäische Koordination

Das Problem betrifft nicht nur Deutschland. Die EU muss koordiniert handeln, um Fragmentierung zu verhindern.


Was das für Unternehmen bedeutet

Unternehmen, die auf stabile und kostengünstige Internetanbindung angewiesen sind, sollten die Entwicklung ernst nehmen:

Für Unternehmen mit eigenem Rechenzentrum oder Colocation:

  • Prüfen Sie Ihre Peering-Strategie: Sind Sie über öffentliche IXPs mit Telekom und Vodafone verbunden?
  • Evaluieren Sie Alternativen: Lohnt sich ein PNI? Oder Diversifikation über mehrere ISPs?
  • Verhandeln Sie proaktiv: Warten Sie nicht, bis die Kosten steigen

Für Unternehmen, die Dienste anbieten:

  • Kalkulieren Sie mit steigenden Transit- und Peering-Kosten
  • Prüfen Sie, ob Content Delivery Networks (CDNs) mit direkten Peerings wirtschaftlicher sind
  • Beobachten Sie die regulatorische Entwicklung

Für Unternehmen, die Internetdienste nutzen:

  • Erwarten Sie möglicherweise Preisanpassungen bei kleineren ISPs
  • Diversifizieren Sie kritische Verbindungen über mehrere Provider
  • Prüfen Sie SLAs und Verfügbarkeitsgarantien

Die stille Transformation des Internets

Das Internet verändert sich – nicht durch einen großen Knall, sondern schleichend. Während wir über KI, Metaverse und Web3 diskutieren, wird die Grundstruktur des Netzes umgebaut. Vom offenen, dezentralen Modell hin zu einem kommerziell kontrollierten System mit Gatekeepern, Kostenbarrieren und Zwei-Klassen-Struktur.

Die Deutsche Telekom hat vorgelegt. Vodafone zieht nach. Andere werden folgen.

Die Bundesnetzagentur prüft – aber zu langsam. Die EU reguliert – aber am falschen Ort. Und während alle warten, entstehen Fakten.

Die eigentliche Frage ist nicht, ob das Internet sich verändert. Es verändert sich bereits. Die Frage ist, ob diese Veränderung noch gesteuert werden kann – oder ob wir in fünf Jahren feststellen, dass es zu spät ist.

Das offene Internet war nie eine Selbstverständlichkeit. Es war das Ergebnis bewusster technischer und politischer Entscheidungen. Jetzt braucht es neue Entscheidungen – bevor die Transformation nicht mehr aufzuhalten ist.


Quellen