Technische Schulden im Management: Wenn veraltete Prozesse teuer werden
Warum Legacy-Prozesse wie Kredite funktionieren – und wie Manager die Zinskosten unter Kontrolle bekommen
“Wir würden ja gerne, aber das System kann das nicht.” Dieser Satz kostet deutsche Unternehmen Milliarden. Nicht wegen der Technik – sondern weil niemand die technischen Schulden ernst nimmt.
Technische Schulden sind wie ein Dispo-Kredit: Kurzfristig praktisch, langfristig teuer. Und genau wie bei echten Schulden gilt: Die Zinsen fressen dich auf, wenn du nicht zurückzahlst.
Die Kredit-Analogie: Schulden, die jeder Manager versteht
Stellen Sie sich vor, Ihr Unternehmen nimmt einen Kredit auf:
Szenario A: Der schnelle Kredit
- Sie brauchen sofort Geld für eine Investition
- Nehmen einen Kredit zu hohen Zinsen auf
- Kurzfristig: Problem gelöst
- Langfristig: Zinslast wird erdrückend
Szenario B: Die vernünftige Finanzierung
- Sie analysieren Ihre Optionen
- Nehmen einen Kredit zu fairen Konditionen auf
- Zahlen kontinuierlich zurück
- Langfristig: Finanzielle Stabilität
Technische Schulden funktionieren genauso.
Der Unterschied: Bei Tech-Debt merkt man die Zinsen später
Finanzielle Schulden:
- Zinsen sind sofort sichtbar (Kontoauszug)
- Jeder versteht die Gefahr
- Controlling überwacht aktiv
Technische Schulden:
- “Zinsen” sind versteckt (langsame Prozesse, mehr Fehler, frustrierte Mitarbeitende)
- Auswirkungen zeigen sich schleichend
- Niemand ist dafür verantwortlich
Das Ergebnis: Technische Schulden werden ignoriert – bis es zu spät ist.
Was sind technische Schulden konkret?
Technische Schulden entstehen, wenn kurzfristige Lösungen langfristige Probleme schaffen.
Beispiele aus der Praxis
Das Excel-Controlling-System
- Vor 15 Jahren: Praktisch, flexibel, schnell aufgesetzt
- Heute: Fehlerhaft, langsam, niemand traut sich, es anzufassen
- “Zinsen”: 2 Mitarbeitende arbeiten Vollzeit daran, es am Laufen zu halten
Der selbstgebaute E-Mail-Verteiler
- Vor 10 Jahren: “Kostet nix, machen wir selbst”
- Heute: Wartung durch externen Freelancer, weil interner Entwickler weg ist
- “Zinsen”: 500 € pro Monat für einen Prozess, den moderne Tools für 50 € erledigen
Das Intranet von 2005
- Damals: State-of-the-art
- Heute: Funktioniert nicht mobil, niemand nutzt es
- “Zinsen”: Wissen wird in E-Mails verschickt, nichts ist dokumentiert
Der manuelle Rechnungsprozess
- “Haben wir schon immer so gemacht”
- Heute: 3 Mitarbeitende tippen Rechnungen ab, die automatisch verarbeitet werden könnten
- “Zinsen”: 120.000 € pro Jahr Personalkosten für eine Aufgabe, die Software für 5.000 € übernehmen könnte
Die drei Arten von technischen Schulden
1. Bewusste Schulden (Strategisch)
- “Wir wissen, dass das nicht perfekt ist, aber wir müssen jetzt liefern”
- Beispiel: MVP mit Quick-and-Dirty-Lösung, um Marktfeedback zu bekommen
- Okay, wenn dokumentiert und Rückzahlung geplant
2. Unbewusste Schulden (Fahrlässig)
- “Wir wussten es nicht besser”
- Beispiel: Prozess vor 10 Jahren aufgesetzt, niemand hat ihn seitdem hinterfragt
- Häufigster Fall, schwer zu erkennen
3. Legacy-Schulden (Erbe)
- “Das haben wir geerbt, und niemand weiß mehr, wie es funktioniert”
- Beispiel: Software vom Ex-CTO, der längst weg ist
- Teuerste Form, weil Wissen fehlt
Die versteckten Kosten: Die Zinsen der Tech-Schulden
Technische Schulden kosten nicht nur Geld – sie kosten Zeit, Nerven und Chancen.
Direkte Kosten (sichtbar)
Wartungskosten explodieren
- Je älter ein System, desto teurer die Wartung
- Beispiel: Legacy-ERP-System braucht 3 Vollzeit-Admins statt 0,5 mit moderner Lösung
- Faktor 6x höhere Personalkosten
Externe Dienstleister werden nötig
- Niemand intern versteht das System mehr
- Abhängigkeit von teuren Spezialisten
- 200-300 € pro Stunde für COBOL-Entwickler
Lizenzkosten für tote Software
- Alte Systeme, die niemand nutzt, aber noch Lizenzen kosten
- Beispiel: Oracle-Datenbank für 50.000 € pro Jahr, obwohl PostgreSQL reichen würde
- Sunk Cost Fallacy: “Haben wir ja schon”
Indirekte Kosten (unsichtbar, aber real)
Langsame Prozesse
- Mitarbeitende warten auf langsame Systeme
- Beispiel: 5 Minuten Ladezeit pro Tag = 20 Stunden pro Jahr pro Person
- Bei 100 Mitarbeitenden: 2.000 verschwendete Stunden
Fehlerquoten steigen
- Alte Systeme sind fragil
- Manuelle Prozesse sind fehleranfällig
- Nacharbeit kostet 2-3x mehr als richtige Arbeit
Innovation wird blockiert
- “Das können unsere Systeme nicht”
- Neue Features dauern Monate statt Wochen
- Wettbewerber überholen uns
Mitarbeiterfrust und Fluktuation
- Talente wollen mit moderner Technologie arbeiten
- Frustrierte Mitarbeitende kündigen
- Recruiting-Kosten: 50.000-100.000 € pro Position
Opportunitätskosten (die teuersten)
Verpasste Marktchancen
- Konkurrent bringt Feature in 2 Wochen, wir brauchen 6 Monate
- Wir verlieren Marktanteile
- Unbezahlbar
Digitalisierungsprojekte scheitern
- “Wir müssen erst das alte System ablösen”
- Projekte werden auf unbestimmte Zeit verschoben
- Stillstand = Rückschritt
Warum Tech-Schulden entstehen (und warum sie bleiben)
Die Entstehung ist menschlich – das Ignorieren ist das Problem.
Entstehungsgründe
Zeitdruck bei Projekten
- “Wir müssen jetzt liefern, später räumen wir auf”
- Later never comes
- Quick-and-Dirty wird zum Permanent-and-Dirty
Fehlende Ressourcen
- “Wir haben kein Budget für saubere Lösungen”
- Sparst du heute 10.000 €, kostet es dich später 100.000 €
- False Economy
Mangelndes Wissen
- Team kannte Best Practices nicht
- Technologie war neu, Trial-and-Error
- Ehrlich, aber teuer
Kurzfristige KPIs
- Management wird an Quartalszielen gemessen
- Langfristige Tech-Schulden interessieren niemanden
- Falsche Incentives
Warum sie bleiben
“Funktioniert doch noch”
- System ist langsam, aber läuft
- Niemand will das Risiko einer Migration
- Status Quo Bias
“Keine Zeit für Refactoring”
- Feature-Druck ist höher als Tech-Health
- Product Owner sieht keinen Business Value
- Vicious Circle: Je schlechter die Basis, desto langsamer neue Features
“Das versteht nur noch Klaus, und Klaus geht bald in Rente”
- Wissen ist in Köpfen, nicht dokumentiert
- Bus Factor = 1
- Tickende Zeitbombe
“Zu teuer zum Anfassen”
- Migration würde 500.000 € kosten
- Niemand traut sich, das Budget zu beantragen
- Sunk Cost Fallacy trifft auf Entscheidungsangst
Die Zinsformel: So berechnen Sie Ihre Tech-Schulden
Technische Schulden lassen sich tatsächlich quantifizieren.
Das Tech-Debt-Ratio-Modell
Tech Debt Ratio = (Kosten für Behebung) / (Kosten für Neuentwicklung) × 100
Beispiel:
- Ihr Legacy-CRM zu sanieren würde 200.000 € kosten
- Ein modernes CRM neu aufzusetzen würde 400.000 € kosten
- Tech Debt Ratio = 50%
Interpretation:
- < 5%: Gesund
- 5-10%: Überwachung nötig
- 10-20%: Handlungsbedarf
- 20%: Kritisch
- 50%+: Fast Rewrite wird günstiger als Refactoring
Die Wartungskosten-Metrik
Maintenance Load = (Zeit für Wartung) / (Gesamtzeit) × 100
Beispiel:
- Entwicklungsteam hat 160 Stunden pro Monat (4 Personen × 40h)
- 80 Stunden gehen für Bugfixes, Updates, “Keeping the lights on”
- Maintenance Load = 50%
Interpretation:
- < 20%: Gesund
- 20-40%: Grenzwertig
- 40-60%: Problematisch
- 60%+: Team kann kaum noch Neues bauen
Die Business-Impact-Formel
Jährliche Tech-Debt-Kosten =
(Wartungskosten) +
(Opportunitätskosten verpasster Features) +
(Fehlerkosten) +
(Mitarbeiterfluktuation)
Reales Beispiel (mittelständisches Unternehmen):
- Wartung: 150.000 € (2 Vollzeit-Entwickler)
- Verpasste Features: 500.000 € Umsatz (geschätzt)
- Fehlerkosten: 50.000 € Nacharbeit
- Fluktuation: 100.000 € (1 Senior-Entwickler verloren)
- Gesamt: 800.000 € pro Jahr
Modernisierungsstrategien
Wie bei echten Schulden gilt: Klein anfangen, konsequent zurückzahlen.
Schritt 1: Inventur machen
Alle Legacy-Prozesse auflisten
- Welche Systeme haben wir?
- Wie alt sind sie?
- Wer nutzt sie?
- Wie kritisch sind sie?
Tech-Debt-Score vergeben
- Wartungsaufwand (1-10)
- Business-Kritikalität (1-10)
- Modernisierbarkeit (1-10)
- Gesamt-Score = Summe
Priorisierung nach Impact
- Quick Wins: Hoher Impact, niedriger Aufwand → sofort angehen
- Big Bets: Hoher Impact, hoher Aufwand → planen
- Fill-Ins: Niedriger Impact, niedriger Aufwand → bei Gelegenheit
- Money Pits: Niedriger Impact, hoher Aufwand → ignorieren oder abschalten
Schritt 2: Budget freischaufeln
Die 20%-Regel
- 20% der Entwicklungszeit geht in Tech-Debt-Abbau
- Nicht verhandelbar
- Wie bei Tilgungsraten: Regelmäßig zahlen
Das Tech-Debt-Budget
- Eigenes Budget für Modernisierung
- Separat von Feature-Entwicklung
- Jährlich 5-10% des IT-Budgets
Management Buy-In holen
- Tech-Debt in Euro umrechnen
- Szenarien zeigen: “Was passiert, wenn wir nichts tun?”
- Business Case mit ROI
Schritt 3: Strategien wählen
Strategie A: Strangler-Fig-Pattern (Schrittweise)
- Altes System läuft weiter
- Neue Funktionen gehen in neues System
- Alte Funktionen werden sukzessive migriert
- Risikoarm, dauert länger
Strategie B: Big-Bang-Rewrite (Komplett neu)
- Altes System wird komplett ersetzt
- Parallelbetrieb während Migration
- Cut-Over an Stichtag
- Risikoreich, schneller fertig
Strategie C: Lift-and-Shift (Technisch modernisieren)
- Prozesse bleiben gleich
- Nur die Technologie wird modernisiert
- Z.B. On-Premise → Cloud
- Kompromiss: Schnell, aber alte Prozesse bleiben
Strategie D: Re-Platform (Neu aufsetzen auf moderner Basis)
- Kernlogik bleibt
- Neue Architektur, neue Technologie
- Code wird neu geschrieben
- Balance zwischen Neu und Alt
Schritt 4: Change Management nicht vergessen
Menschen sind der größte Widerstand
Widerstände ernst nehmen
- “Das haben wir schon immer so gemacht”
- “Das neue System kann nicht, was das alte konnte”
- “Ich verliere mein Experten-Wissen”
Kommunikation ist alles
- Warum modernisieren wir?
- Was bedeutet das für jeden Einzelnen?
- Wie werden Mitarbeitende geschult?
- Transparenz schafft Akzeptanz
Early Adopters finden
- Identifiziere Change Champions im Team
- Lass sie das neue System testen
- Nutze ihre Erfolgsgeschichten für Marketing
- Peer Pressure wirkt besser als Top-Down
Schulungen und Onboarding
- Niemand mag neue Systeme, wenn er sie nicht versteht
- Investiere in Training
- Biete Hands-on-Workshops
- Zeit für Einarbeitung einplanen
Schritt 5: Dokumentation aufbauen
Wissen sichern, bevor Klaus in Rente geht
Dokumentationspflicht einführen
- Jedes System hat eine README
- Jeder Prozess ist dokumentiert
- Entscheidungen werden festgehalten (ADRs = Architecture Decision Records)
- “If it’s not documented, it doesn’t exist”
Wissensdatenbank aufbauen
- Zentrale Plattform (Notion, Confluence, etc.)
- Alle können beitragen
- Regelmäßige Updates
- Lebendige Dokumentation statt PDF-Friedhof
Bus Factor erhöhen
- Kein Wissen darf nur in einem Kopf sein
- Pair Programming, Code Reviews
- Rotation zwischen Teams
- Redundanz schafft Sicherheit
Die häufigsten Fehler beim Schulden-Abbau
Fehler 1: “Wir machen alles auf einmal”
- Big-Bang-Projekte scheitern zu 70%
- Besser: Inkrementell vorgehen
- Small Bets, häufige Releases
Fehler 2: “Wir brauchen kein Change Management”
- Menschen sind der größte Risikofaktor
- Technik ist das kleinste Problem
- Kommunikation > Code
Fehler 3: “Wir dokumentieren später”
- Later never comes
- Dokumentation muss parallel laufen
- No Docs = Tech Debt 2.0
Fehler 4: “Das alte System können wir ja als Backup behalten”
- Führt zu Schatten-IT
- Wartungskosten bleiben
- Hard Cuts sind besser
Fehler 5: “Wir holen uns die billigste Lösung”
- Billig wird teuer
- Vendor Lock-In
- Total Cost of Ownership beachten
Die Zukunft: Schuldenfreiheit als Strategie
Erfolgreiche Unternehmen behandeln Tech-Debt wie finanzielle Schulden: Strategisch, messbar, aktiv gemanagt.
Die 3 goldenen Regeln
Regel 1: Keine neuen Schulden ohne Plan
- Jede bewusste Tech-Debt wird dokumentiert
- Mit Rückzahlungsplan
- Mit verantwortlicher Person
- “No Debt without Repayment Schedule”
Regel 2: 20% der Zeit = Debt Repayment
- Nicht verhandelbar
- Teil der Sprint-Planung
- Messbar und transparent
- Kontinuierliche Verbesserung
Regel 3: Tech-Debt-Review alle 6 Monate
- Inventur machen
- Prioritäten anpassen
- Fortschritt messen
- Management-Attention schafft Verbindlichkeit
Die Rechnung geht auf
Unternehmen, die Tech-Debt ernst nehmen:
- Sind 2-3x schneller bei neuen Features
- Haben 50% weniger Produktionsfehler
- Sparen 20-30% IT-Kosten langfristig
- Können bessere Talente rekrutieren
- Sind wettbewerbsfähiger in digitalen Märkten
Unternehmen, die Tech-Debt ignorieren:
- Verlieren Marktanteile
- Können nicht innovieren
- Haben hohe Fluktuation
- Sind nicht zukunftsfähig
Die Wahl ist einfach: Schulden abbauen – oder von ihnen erdrückt werden.
Pragmatische Handlungsempfehlungen
Für CTOs und IT-Leiter:
- Tech-Debt quantifizieren und in Euro umrechnen
- Dem Management einen Business Case präsentieren
- 20%-Regel einführen und verteidigen
- Erfolge sichtbar machen
Für Geschäftsführung und C-Level:
- Tech-Debt als strategisches Risiko verstehen
- Budget für Modernisierung freimachen
- Langfristig denken statt nur Quartals-KPIs
- IT-Leitung vertrauen und unterstützen
Für Projektleiter und Product Owner:
- Tech-Debt in Backlogs aufnehmen
- User Stories für Refactoring schreiben
- Balance zwischen Features und Tech-Health
- Teams nicht kaputtsparen
Für Entwicklungsteams:
- Tech-Debt transparent machen
- Lösungsvorschläge mitbringen
- Code Reviews ernst nehmen
- Dokumentation als Teil der Definition of Done
Technische Schulden sind kein IT-Problem – sie sind ein Management-Problem. Wer das versteht und handelt, baut ein zukunftsfähiges Unternehmen.
Wer es ignoriert, zahlt später – mit Zinsen.
Quellen
- Legacy Modernisierung - Campana & Schott
- Technische Schulden, Legacy Code - SparkTeams
- 7 Strategien für erfolgreiche IT-Modernisierung - EXXETA
- Was sind technische Schulden? - IBM
- Legacy-Modernisierung - INNOQ
- Legacy-Systeme: Millionenkosten durch Tech Debt
- Strategien zur Modernisierung von Legacy-Systemen - Vention