Warum klassische CMS-Systeme an ihre Grenzen stoßen – und warum Headless CMS die Zukunft sein können
Vor ein paar Jahren reichte es völlig aus, eine Website zu betreiben, die Texte, Bilder und vielleicht ein paar Videos enthielt. Ein klassisches Content-Management-System (CMS) wie WordPress, Joomla oder Typo3 lieferte genau das, was man brauchte: Inhalte eingeben, speichern, veröffentlichen – fertig.
Heute sieht die Realität anders aus.
Drei typische Szenarien aus der Praxis
Szenario 1: Online-Shop mit App Ein Modehändler betreibt einen WordPress-Shop (WooCommerce) und möchte zusätzlich eine mobile App launchen. Produktdaten, Preise und Bilder müssen doppelt gepflegt werden – einmal in WordPress, einmal in der App-Datenbank. Jedes Update wird zum manuellen Aufwand.
Szenario 2: Corporate Website + Infodisplays Ein Unternehmen mit mehreren Standorten will Inhalte der Website auch auf Infodisplays in den Filialen zeigen. Das klassische CMS liefert HTML-Seiten, aber keine strukturierten Daten für die Display-Software. Lösung: Manuelle Exports oder fehleranfällige Scraping-Scripts.
Szenario 3: Mehrsprachiger Content für verschiedene Plattformen Eine Agentur managed Inhalte für Website, iOS-App, Android-App und einen Alexa-Skill. Vier verschiedene Systeme, vier Mal dieselben Texte eingeben, vier Mal übersetzen. Inkonsistenzen sind vorprogrammiert.
Das gemeinsame Problem: Klassische CMS liefern fertige Webseiten (HTML), aber keine wiederverwendbaren, strukturierten Daten.
Die Lösung, von der in der Branche immer öfter die Rede ist: Headless CMS – Systeme, die Inhalt und Darstellung vollständig voneinander trennen und Daten via API bereitstellen.
Was ist ein klassisches CMS?
Ein klassisches CMS ist eine Software, die sowohl die Inhalte als auch die Gestaltung und Auslieferung einer Website steuert. Das Backend dient der Verwaltung – hier werden Texte, Bilder, Videos und Dateien angelegt. Das Frontend ist die sichtbare Website, die Besucher*innen im Browser sehen.
Beispiele: WordPress, Joomla, Typo3.
Gemeinsame Merkmale:
- Enge Kopplung: Inhalt und Darstellung sind technisch stark miteinander verknüpft
- Template-Ansatz: Die Gestaltung basiert auf vorgegebenen Themes oder Templates
- Zentrale Installation: Backend und Frontend laufen im selben System auf demselben Server
Wo klassische CMS-Systeme an ihre Grenzen stoßen
1. Sicherheitsrisiken
Klassische CMS sind weit verbreitet – und dadurch ein beliebtes Ziel für Angriffe.
Die Zahlen sprechen für sich:
- 43% aller Websites weltweit nutzen WordPress (W3Techs, 2024)
- 90% der gehackten CMS-Websites waren WordPress-Installationen (Sucuri Security Report, 2023)
- Durchschnittlich 1,5 kritische Sicherheitslücken pro Monat in den Top-10-Plugins (WPScan Vulnerability Database)
- 70% der WordPress-Sites laufen mit veralteten Versionen (Patchstack, 2024)
Das Problem: Sicherheitslücken entstehen nicht nur im Kernsystem, sondern auch durch Plugins, Themes und Erweiterungen. Updates müssen oft zeitnah eingespielt werden, und schon ein kleines Kompatibilitätsproblem kann die gesamte Website lahmlegen.
Reales Beispiel: Das “WPGateway”-Plugin hatte 2023 eine kritische Lücke, die 300.000+ Websites betraf. Angreifer konnten Admin-Zugang erlangen, ohne Passwort. Viele Sites wurden erst Monate später aktualisiert.
2. Technische Limitierungen
Die Architektur klassischer CMS ist oft monolithisch. Das bedeutet: Jede Änderung oder Optimierung kann Auswirkungen auf das gesamte System haben. Hohe Besucherzahlen oder komplexe Inhalte können die Performance merklich beeinträchtigen.
3. Schwächen im Multi-Channel-Publishing
Ein klassisches CMS ist in der Regel für eine Website optimiert. Wer dieselben Inhalte in einer App, in einer Progressive Web App (PWA), in einem Kiosk-System oder in einem Smart-TV veröffentlichen möchte, stößt schnell an Grenzen. Inhalte müssen doppelt gepflegt oder aufwendig exportiert werden.
4. Hosting- und Wartungsaufwand
Da Backend und Frontend auf einem Server laufen, müssen die Systeme leistungsfähig genug für Spitzenlasten sein. Regelmäßige Wartung ist Pflicht – inklusive Updates, Sicherheitschecks und Backups.
Was ist ein Headless CMS?
Ein Headless CMS trennt die Inhaltsverwaltung (Backend) von der Ausgabe (Frontend). Das Backend dient ausschließlich dazu, Inhalte strukturiert zu erfassen und über eine API – meist REST oder GraphQL – bereitzustellen.
Das Frontend kann völlig unabhängig davon entwickelt werden: mit React, Vue, Svelte, Angular, als mobile App, Sprachassistent oder sogar als Datenquelle für ein PDF-Generierungssystem.
Man kann sich das so vorstellen:
- Klassisches CMS = Kopf + Körper (Inhalt + Darstellung in einem System)
- Headless CMS = Nur der Körper (Inhalte) – der „Kopf” (Darstellung) wird frei gewählt
Klassisch vs. Headless: Der direkte Vergleich
| Kriterium | Klassisches CMS | Headless CMS |
|---|---|---|
| Architektur | Monolithisch (Backend + Frontend gekoppelt) | API-First (Backend + Frontend getrennt) |
| Ausgabekanäle | Primär Website (HTML) | Multi-Channel (API für alle Plattformen) |
| Performance | Abhängig vom System (oft 2-5s Ladezeit) | Statisch/Fast (0,5-1s mit Jamstack) |
| Sicherheit | Höheres Risiko (öffentlich erreichbar) | Geringeres Risiko (Backend geschützt) |
| Flexibilität | Template-basiert, eingeschränkt | Framework-agnostisch, sehr flexibel |
| Lernkurve | Flach (WYSIWYG-Editor) | Steiler (API-Kenntnisse nötig) |
| Kosten (Hosting) | 5-50€/Monat (je nach Traffic) | 0-200€/Monat (API-Calls + Frontend) |
| Setup-Zeit | Stunden bis Tage | Tage bis Wochen |
| Wartung | Häufige Updates nötig | Weniger Wartungsaufwand |
| Beispiele | WordPress, Typo3, Drupal | Strapi, Contentful, Sanity |
Vorteile von Headless CMS
Technologiefreiheit
Entwickler*innen können im Frontend genau das Framework oder die Technologie einsetzen, die am besten passt – ohne von CMS-Templates eingeschränkt zu sein.
Skalierbarkeit
Backend und Frontend können getrennt voneinander skaliert werden. Hoher Traffic im Frontend belastet das Backend nicht direkt.
Multi-Channel-Fähigkeit
Inhalte können gleichzeitig in Websites, Apps, Social-Media-Integrationen, Sprachassistenten oder IoT-Geräten erscheinen – ohne doppelte Pflege.
Bessere Performance
Frontends können als statische Seiten (Jamstack) oder Single-Page-Apps ausgeliefert werden, was Ladezeiten deutlich reduziert.
Performance-Vergleich (Real-World-Beispiel: E-Commerce-Site):
| Metrik | Klassisches WordPress + WooCommerce | Headless (Strapi + Next.js Static) | Verbesserung |
|---|---|---|---|
| First Contentful Paint | 2,8s | 0,4s | 86% schneller |
| Time to Interactive | 5,2s | 1,1s | 79% schneller |
| Lighthouse Score | 45/100 | 98/100 | +118% |
| Bundle Size | 890 KB | 210 KB | 76% kleiner |
| Server Response | 450ms | 50ms (CDN) | 89% schneller |
SEO-Effekt:
- Besseres Google-Ranking durch Core Web Vitals
- Höhere Conversion-Rate (1s schneller = +7% Conversions)
- Geringere Absprungrate
Auch klassische CMS können schnell sein!
Mit den richtigen Optimierungen:
- Caching-Plugin (WP Rocket, W3 Total Cache)
- CDN (Cloudflare, BunnyCDN)
- Bildoptimierung (WebP, Lazy Loading)
- Managed WordPress Hosting
Investition: 50-200€ einmalig + 10-30€/Monat Resultat: 1-2s Ladezeit statt 4-5s
🔐 Sicherheitsvorteile
Da das Backend nicht öffentlich im Web erreichbar sein muss, sinkt die Angriffsfläche.
Herausforderungen bei Headless CMS
Höhere Einstiegshürden
Ohne technisches Wissen geht es oft nicht – besonders beim Erstellen eines Frontends.
Abhängigkeit von APIs
Fällt die API aus oder ändert sich, kann das Frontend beeinträchtigt werden.
Planungsaufwand
Die Content-Struktur muss sorgfältig entworfen werden, damit alle Kanäle sauber bedient werden können.
Kosten
Manche Headless-CMS-Angebote, vor allem im Enterprise-Bereich, sind deutlich teurer als klassische CMS-Lösungen.
Wann welches System? Die Entscheidungsmatrix
Nicht jedes Projekt braucht ein Headless CMS. Hier ist eine klare Entscheidungshilfe:
✅ Klassisches CMS passt, wenn:
- Einfache Website/Blog ohne Multi-Channel-Anforderungen
- Nicht-technisches Team ohne Entwickler verfügbar
- Budget unter 1.000€ für Setup + Entwicklung
- Standard-Features ausreichen (Blog, Portfolio, kleine Corporate Site)
- Schneller Launch wichtiger als langfristige Skalierbarkeit
- WYSIWYG-Editor für Content-Team essentiell
Typische Projekt-Beispiele:
- Lokales Handwerksunternehmen mit Kontaktformular
- Personal Blog eines Autors
- Vereins-Website mit News-Bereich
- Restaurant-Website mit Speisekarte
- Portfolio-Site für Freelancer
Kosten-Schätzung:
- Setup: 500-2.000€
- Hosting: 5-30€/Monat
- Wartung: 50-200€/Monat (optional)
✅ Headless CMS passt, wenn:
- Multi-Channel Publishing geplant (Website + App + IoT + Displays)
- Technisches Team verfügbar oder Budget für Agentur (15.000€+)
- Performance & Skalierung kritisch (>50.000 Besucher/Monat erwartet)
- Internationale Märkte mit vielen Sprachen und Regionen
- Langfristige Strategie wichtiger als Quick-Win
- API-First-Ansatz gewünscht (z.B. für mobile Apps)
- Hohe Sicherheitsanforderungen (z.B. Finanzsektor, Healthcare)
Typische Projekt-Beispiele:
- E-Commerce mit iOS/Android-Apps
- SaaS-Produkt mit mehreren Frontends (Web, Mobile, Desktop)
- Corporate Website mit Infodisplays in 50+ Filialen
- Publisher mit Website, Apps und Newsletter-Integration
- Internationale Marke mit 10+ Sprachen und Regionen
Kosten-Schätzung:
- Setup: 15.000-50.000€
- Hosting: 50-500€/Monat (API + CDN + Frontend)
- Wartung: 500-2.000€/Monat
Hybrid-Ansatz möglich!
Manche Projekte starten mit WordPress und migrieren später zu Headless, wenn die Anforderungen wachsen. Oder: WordPress als Headless CMS nutzen (mit WP REST API oder WPGraphQL) – ein Mittelweg für Teams, die WordPress kennen, aber API-Vorteile wollen.
Ausblick auf die Serie
In den nächsten Teilen dieser Serie stellen wir verschiedene Headless CMS vor – immer nach einem einheitlichen Raster, damit ein direkter Vergleich möglich ist.
Bewertungskriterien:
- Herkunft & Zielgruppe
- Technische Basis (Sprache, API-Typ, Hosting)
- Preisgestaltung
- Anforderungen an Wissen & Infrastruktur
- Konzept & Architektur
- Aktualität & Community
- Zielgruppe & Einsatzbereiche
- Beispiele & Use Cases
- Fazit mit Stärken & Schwächen
Geplante Systeme:
- Strapi – Open-Source-Standard im Headless-Bereich
- Directus – API-first mit visuellem Interface
- Contentful – SaaS-Marktführer
- Storyblok – Headless mit visuellem Editor
- Sanity – Flexibles Content-Modeling
- Prismic – Slice-basierte Inhalte
- Hygraph (GraphCMS) – GraphQL-native Lösung
Von WordPress zu Headless: Die Migration
Falls Sie bereits eine WordPress-Site haben und zu Headless wechseln möchten:
Aufwand-Schätzung:
| Projektgröße | Seiten | Entwicklertage | Kalenderwochen | Kosten (ca.) |
|---|---|---|---|---|
| Klein | 5-20 | 10-30 | 2-6 | 8.000-25.000€ |
| Mittel | 20-100 | 30-60 | 6-12 | 25.000-50.000€ |
| Groß | 100+ | 60-120+ | 12-24+ | 50.000-150.000€+ |
Typischer Migrations-Ablauf:
Phase 1: Analyse & Planung
- Content-Audit: Welche Inhalte haben wir?
- Content-Modelling: Wie strukturieren wir die Daten?
- CMS-Auswahl: Welches Headless CMS passt?
- Frontend-Technologie: React, Vue, Svelte?
Phase 2: Setup & Migration 5. Headless CMS aufsetzen und konfigurieren 6. Content-Struktur (Content Types) anlegen 7. Daten aus WordPress exportieren 8. Daten ins neue CMS importieren
Phase 3: Frontend-Entwicklung 9. Design-System aufbauen 10. Komponenten entwickeln 11. API-Integration implementieren 12. SEO & Performance optimieren
Phase 4: Testing & Launch 13. Quality Assurance & Browser-Testing 14. Parallel-Betrieb (alte + neue Site) 15. DNS-Umstellung 16. Monitoring & Feinschliff
Kosten-Beispiel: Kleiner Online-Shop (30 Seiten)
| Position | Aufwand | Kosten |
|---|---|---|
| Content-Strategie & Modelling | 3 Tage | 3.000-5.000€ |
| CMS-Setup & Content-Migration | 5 Tage | 5.000-8.000€ |
| Frontend-Entwicklung (Next.js) | 15 Tage | 15.000-25.000€ |
| Testing & Launch | 2 Tage | 2.000-3.000€ |
| Gesamt | 25 Tage | 25.000-41.000€ |
Laufende Kosten:
- Hosting: 50-150€/Monat (Headless CMS + Frontend CDN)
- Wartung: 200-500€/Monat
- Updates: Deutlich seltener als bei WordPress
Wichtig: Headless ist KEIN Upgrade, sondern ein Neubau!
Unterschätzen Sie nicht:
- Die Komplexität der Content-Struktur
- Den Schulungsaufwand für das Content-Team
- Die Entwicklerkosten für Custom-Features
- Die deutlich längere Time-to-Market im Vergleich zu klassischen CMS
Der nächste Schritt
Der Wechsel von einem klassischen zu einem Headless CMS ist mehr als nur ein Software-Update – es ist ein Paradigmenwechsel in der Art, wie Inhalte gedacht und ausgeliefert werden.
Die Vorteile sind klar: Flexibilität, bessere Performance, Multi-Channel-Publishing und ein zukunftssicherer Technologie-Stack. Doch wer den Schritt geht, muss bereit sein, in Planung, Technologie und Know-how zu investieren.
In den kommenden Artikeln dieser Serie sehen wir uns die einzelnen Systeme im Detail an – damit du genau einschätzen kannst, welches Headless CMS zu deinen Projekten, deinem Team und deinem Budget passt.
Die Zukunft des Content Managements ist headless – und sie hat bereits begonnen!